Die zweithäufigste Frage in Patchwork-Familien-Beratungen ist die Frage:
„Wie verbringen wir einen gelungenen Urlaub miteinander?“
Sie kommt gleich nach dem Klassiker:
„Wie feiern wir ein harmonisches Weihnachtsfest?“
Die Latte hängt hoch
Bei beiden Ereignissen sind die Erwartungen hoch! Wir wollen „Family at its best!“, drunter wollen wir es nicht machen.
Sowohl mit Weihnachten als auch mit unseren gemeinsamen Ferien verknüpfen wir Sehnsüchte, Wünsche und Erwartungen – auch in ganz „normalen“ Familien.
Dort findet allerdings vieles statt, über das keiner mehr nachdenkt, geschweige denn spricht.
Dinge wie z.B. „Wann und was wird gegessen?“ oder „Wer sitzt auf der Fahrt im Auto wo?“ stehen nicht mehr zur Disposition.
Essenstraditionen haben sich entwickelt und die hierarchischen Kämpfe um die besten Plätze sind bei den Normalos irgendwann ausgefochten oder werden erst gar nicht geführt.
Diese Selbstverständlichkeiten müssen in Patchwork-Familien allerdings sehr wohl neu verhandelt werden, sich entwickeln und zusammen wachsen. Fast nichts geschieht einfach so oder ergibt sich. Das ist anstrengend und bringt Konflikte mit sich!
Diese können aber durchaus dafür sorgen, dass wir uns besser kennen und verstehen lernen, wenn wir sie als offenen Prozess gestalten.
Zu Tisch, bitte!
Es ist eine gute Idee sich zusammen zu setzen und sich miteinander über die Vorstellungen, die jeder von der gemeinsamen Ferienzeit hat, auszutauschen.
Dabei sollte sich jeder Einzelne folgende Fragen stellen:
- Was wünsche ich mir?
- Was brauche ich unbedingt?
Gut, nun glaubt so mancher Teenager er brauche seine Playstation unbedingt, aber darauf zielt die Nummer zwei der Fragen nicht ab!
Vielmehr geht es dabei um unsere existentiellen Bedürfnisse.
Mögliche Antworten können dann lauten:
- „Ich brauche Zeit für mich.“
- „Ich brauche Ruhe und die finde ich an einem persönlichen Rückzugsort / auf einem Spaziergang alleine etc.“
- „Ich brauche Deine Nähe, ich möchte so und soviel Zeit mit Dir alleine verbringen.“
Etc.
Um diese sehr persönlichen Antworten zu finden, braucht man Zeit. Man muss eine Introspektion vornehmen oder, einfacher formuliert, man muss in sich das Licht anknipsen und nachschauen:
- „Was brauche ich wirklich?“
- „Was tut mir gut?“
- „Ohne was kann ich nicht leben?“
- „Was raubt mir Kraft?“
- „Wann und wie tanke ich Energie?“
Von Wünschen und Bedürfnissen
Solche Fragen schaffen eine Unterscheidung zwischen wirklichen Bedürfnissen und Wünschen.
Und diese Unterscheidung ist wichtig!
Wenn ich einen Wunsch nicht erfüllt bekomme, so ist das ohne Zweifel schade!
Aber wenn ich auf Dauer auf ein für mich existentielles Bedürfnis verzichten muss, bedroht das nicht nur meine eigene seelische und körperliche Gesundheit, sondern auch meine Partnerschaft und die Familie.
Wir können nicht auf Dauer ohne die Erfüllung eines existentiellen Bedürfnisses leben und anderen zuliebe verzichten, da kann die Liebe noch so groß sein!
Könnten wir das, so wäre das Bedürfnis nicht existenziell.
Kaffee zählt also nicht – wir würden zweifellos ohne ihn überleben!
Die eigenen Antworten zu finden ist also keine leichte Übung!
Sich die Antworten der Anderen anzuhören aber auch nicht!
Es ist nämlich gar nicht so leicht, die Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder nicht sofort als Handlungsauftrag zu verstehen. Auch muss man sie nicht gleich einem „Machbarkeits-Test“ oder „Finanzcheck“ unterziehen.
Bei Kindern kommt hinzu, dass wir Großen oft erst einmal hinter die Fassade ihrer Antworten schauen müssen, um das „Gemeinte“ hinter dem „Gesagten“ zu verstehen.
Was heißt denn: „Ich will aber auf keinen Fall bei DEM im Zimmer schlafen!“
Heißt das vielleicht: „Ich habe einen anderen Tagesrhythmus und brauche meinen eigenen Rückzugsraum“ oder „ich brauche auch mal meine leiblichen Geschwister / Mama / Papa / Kernfamilie für mich alleine, um Nähe aufzutanken und zu entspannen.“
Nur wenn wir die Bedürfnisse von uns und unseren Familienmitgliedern kennen, ist es überhaupt erst möglich, nach einer verbindenden Lösung* zu suchen. Diese Lösungen unterscheiden sich von Kompromissen insofern, dass sie die Bedürfnisse aller bestmöglich berücksichtigen, anstatt den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Letztendlich bekommt bei einem Kompromiss oft keiner was er will und entsprechend knirschen schon bei seiner Findung alle mit den Zähnen!
Weiß jedes Familienmitglied um die Bedürfnisse der Anderen, so hat das natürlich den Vorteil, dass wir uns gut kennen(lernen) und um unsere ganz persönlichen Grenzen wissen.
Sollte einmal keine verbindende Lösung gefunden werden, ein Familienmitglied bekommt also seine Bedürfnisse nicht erfüllt, so wissen das alle.
Und dieses Wissen macht etwas mit uns und unserer Gemeinschaft!
Wir werden es bei den nächsten Entscheidungen berücksichtigen.
In der Ferne und zu Hause
Ein solch‘ offener Prozess hilft natürlich nicht nur bei der Urlaubsplanung!
Danach tappen wir auch im Alltag nicht mehr so häufig in die typischen Patchworkfallen.
- Fühlen uns etwa nicht zurückgestellt, wenn sich der Partner Zeit alleine mit seinen Kindern oder für sich nimmt – wir wissen dann, warum er es macht oder braucht!
- Wir vermeiden Loyalitätskonflikte, wenn wir wissen, dass ein Familienmitglied Heimweh nach Mama hat und eigentlich nicht solange von zu Hause weg will und können es entsprechend berücksichtigen.
Dann muss keiner Ausreden à la „Hier ist es sooooo langweilig“ oder „Die Ferienwohnung stinkt!“ erfinden, sondern kann getröstet werden und das Telefonat mit Mama ist dann auch kein Affront mehr gegen die neue Partnerschaft. - Oder wir verstehen, dass es nicht um die Bevorzugung des eigenen Kindes geht, sondern um ein Bedürfnis nach Nähe. Dann ist klar, dass eine gerechtere Zeitverteilung das Problem nicht lösen wird.
Was dagegen helfen kann, hat einmal die ehemalige Kindergärtnerin einer meiner Söhne sehr passend formuliert:
„Manches Kind braucht erst einmal eine ganze Menge Extrawürste,
bevor es essen kann, was alle anderen essen!“
- Wichtig ist aber, dass es die richtige „Wurst“ ist und diese somit auch wirklich nährt und nicht nur das schlechte Gewissen von Papa beruhigt.
- Für ältere Kinder ist dieser offene Austausch auch wichtig, um realistische Erwartungen zu haben. Sie müssen dann ihre neuerlernten Reitkünste nicht ausgerechnet dann zeigen, wenn der kleinste Neuzugang der Familie seinen Mittagsschlaf braucht. Sie sitzen dann aber auch nicht wartend im Hotelzimmer, sondern kennen den Baby-Zeitplan und haben eine genauere Vorstellung davon, wann ihre Eltern wieder Zeit für sie haben werden.
Zum Wohle der Erwachsenen
Auch die Bonuseltern als Paar, und auch jeder für sich, dürfen und müssen ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen!
Einer Patchworkfamilie geht es immer nur so gut,
wie es der Beziehung des Paares geht!
Ihre Verbindung ist der Grund, warum zwei Familien zusammenwachsen (sollen).
Diese Liebe braucht also eine gute Pflege, damit beide Verbindungen gelingen!
Geht es den Bonuseltern und ihrer Partnerschaft gut, kann auch der Zusammenhalt der ganzen Patchworkschar wachsen!
Aus diesem Grund ist es eine gute Idee, sich regelmäßig ein paar Tage Urlaub oder ein Wochenende als Paar zu gönnen – ganz ohne Kinder!
Sich Zeit für die eigenen Bedürfnisse zu nehmen und die Beziehung zum Partner zu pflegen und zu hegen! Das tut letztendlich der ganzen Patchworkfamilie gut!
* „Verbindende Lösung“ ist ein Begriff, den Vivian Dittmar geprägt hat.